
Zwang vs. Passform
Manchmal haben wir das Gefühl, als hätten unsere tollen neuen Gewohnheiten die Passform einer Zwangsjacke – sei es eine Sportart, eine Ernährungsweise oder eine andere Lebensgewohnheit, von der wir glauben sie wäre endlich der Schlüssel zu unserem individuellen Glück. Ein Beispiel aus meinem Leben, das nun schon ein paar Jahre her ist:
Ich wollte unbedingt einen Sport finden, den ich gemeinsam mit meinem Hund machen kann. Was lag da auf der Hand? Natürlich Joggen! Mein ganzes Leben lang habe ich joggen gehasst. Aber man hört und liest ja überall, dass man nach einer gewissen Zeit dieses tolle Gefühl bekommt und irgendwann dann auch einen Trainingseffekt hat. Ich also brav mit Pulsuhr, Trainingsplan und allem, was dazu gehört Monate lang vor mich hin gerannt. Disziplin ist nicht mein Problem. Das kann aber eben auch mal nach hinten losgehen, wenn man nicht auf den eigenen Körper hört. Jedenfalls hat meiner jedes einzelne Mal ganz eindeutig gesagt „DAS will ich nicht“! Im Gegensatz zu anderen Sportarten, die mir vielleicht auch nicht leichtfallen, aber mein Körper fühlt sich grundsätzlich gut dabei. Die angebliche Verbesserung kam auch nicht. Also habe ich es gelassen.
Ein anderes Beispiel, wie einschränkend selbst die kleinsten Dinge sein können: Stell dir vor, du hast einen verletzten Finger – so einen Mini-Schnitt, den man sich an Papier einfangen kann. Also wirklich winzig! Und dann merkst du plötzlich, wie oft du genau diesen Finger brauchst. Schreiben, Kochen, Schuhe binden – jede kleine Bewegung wird nervig, weil es wehtut. Es ist faszinierend, wie ein kleines Detail den ganzen Bewegungsablauf im Alltag stören kann. Genauso ist es mit den Dingen, die wir uns aufzwingen, weil wir glauben, sie tun zu müssen. Sie beeinträchtigen uns viel mehr, als wir uns zugestehen.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Durchhalten und Disziplin gefeiert werden. Und wenn man mal etwas nicht durchzieht, fühlt man sich gleich als VersagerIn. Ich frage mich, wo ist die Grenze zwischen einer sinnvollen Herausforderung, um zu wachsen und sich weiterzuentwickeln, und wo beginnt der Zwang in eine Passform, die uns nicht guttut? Viele Menschen zwängen sich in eine Ernährungsform, weil sie angeblich „die Beste“ ist – der „Heiße Scheiß“ – excuse my french… Aber nicht jede Ernährung passt zu jedem Körper. Es ist kurzsichtig zu glauben, dass ich genauso fit und gesund werde, nur weil ich das esse, was eine gefeierte Influencerin gerade auf Social Media propagiert. Manche fühlen sich mit einer bestimmten Art zu essen großartig, während andere mit Verdauungsproblemen, Energieeinbrüchen oder Heißhunger kämpfen. Es ist vollkommen absurd, dass wir oft mehr auf Trends hören als auf die Signale unseres Körpers.
Natürlich gibt es so etwas wie „Umstellungsschmerz“ – ich benutze auch gerne das Wort „Wachstumsschmerz“. Die meisten Veränderungen sind am Anfang unbequem. Wer nie Sport gemacht hat, wird beim ersten Mal Muskelkater haben. Wer jahrelang Zucker konsumiert hat, wird in den ersten Wochen eines Zuckerverzichts Entzugserscheinungen spüren. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen einer sinnvollen Anpassung und einem Zeichen, dass etwas nicht zu uns passt. Wenn nach einigen Wochen keine Besserung eintritt, wenn sich unser Körper schlicht dagegen wehrt, dann sollten wir uns ehrlich fragen: Für wen mache ich das eigentlich? Für mich und meinen Körper? Oder bin ich da nur einem Trend mit spitzen Marketing zum Opfer gefallen? – das passiert uns übrigens allen. Also kein Grund sich zu schämen!
Es ist nicht immer leicht, sich von einer Idee zu verabschieden, an die man fest geglaubt hat. Von der man überzeugt war, dass sie einem endlich das gewünschte Ergebnis bringt. Doch wahre Selbstfürsorge bedeutet nicht, sich mit aller Kraft in ein System zu pressen, sondern den eigenen Weg zu finden. Vielleicht ist es nicht das Joggen, sondern Schwimmen oder Tanzen. Vielleicht ist es nicht Intervallfasten, sondern regelmäßige, ausgewogene Mahlzeiten. Vielleicht ist es nicht die „eine perfekte Methode“, sondern eine Kombination aus verschiedenen Ansätzen, die genau auf dich abgestimmt sind.
Anstatt sich zu fragen: „Warum klappt das bei allen anderen, nur bei mir nicht?“, wäre es hilfreicher zu überlegen: „Was fühlt sich für mich stimmig an?“. Unser Körper gibt uns ständig Hinweise – wir müssen nur lernen, sie zu hören.
Also, wo in deinem Leben zwingst du dich gerade zu etwas, das eigentlich nicht passt? Wie sieht deine individuelle Zwangsjacke aus? Und was wäre, wenn du den Mut hättest, es loszulassen und einen eigenen, besseren Weg zu finden?